WANSE |
Mit diesem Beitrag möchten wir den* LF-Kulturblog seiner eigentlichen Bestimmung zuführen: Wir möchten über die Voraussetzungen und Perspektiven kultureller Arbeit unter den Bedingungen des totalen Marktes sprechen. Ich werde etwa wöchentlich eine Frage stellen und lade jedermann herzlich dazu ein, sich an ihrer Beantwortung zu beteiligen.
Die formalen Dinge werden dabei wie folgt gehandhabt:
Jeder Beitrag kann voraussetzungslos (also ohne vorherige Anmeldung usw.) unter der Funktion "Kommentar" (klein, hellbraun, ganz unten) verfasst werden. Jeder eingehende Kommentar wird von mir dann schnellstmöglich unverändert als Beitrag veröffentlicht. Notfalls teilen Sie Ihren Beitrag in mehrere Teile (Anzahl der Zeichen ist begrenzt). Grundsätzlich bitte ich um folgende Angaben: 1.) Name (falls gewünscht, ansonsten Angabe zB. "anonym") 2.) Beruf (zB. "Künstler")
Bitte außerdem beachten: 1.) Sollten Sie sich zu einer anderen als der gerade aktuellen Frage äußern wollen, geben Sie mir bitte einen entsprechenden Hinweis (siehe auch Punkt 4). Ich werde Ihren Kommentar dann an der geeigneten Stelle publizieren. 2.) Sollte sich Ihr Beitrag auf einen anderen, bereits veröffentlichten Beitrag beziehen, geben Sie bitte den entsprechenden Bezug an. Ich werde Ihren Kommentar dann an der geeigneten Stelle publizieren. 3.) Etwaige Links bitte gesondert angeben! Ich werde sie entsprechend anfügen oder mit den geeigneten Textteilen verbinden. Links müssen in Klammern "( )" an der jeweils beabsichtigten Stelle angegeben werden. Eine solche Angabe wird von mir dann dem jeweils direkt vorhergehenden Passus zugeordnet. 4.) Wenn Sie Mitteilungen machen wollen, die nicht publiziert werden sollen, setzen Sie diese bitte in Klammern unter Einfügung der Präambel "ex:". Alles, was innerhalb der Klammer steht, wird dann nicht von mir in den zu publizierenden Beitrag übernommen.
*("Das Blog" klingt unendlich beschissen. Deshalb von nun an hier immer Maskulinum! L.W.)
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Überprüfung 1 / Oktober 2012
18. Okt./ Christian Riebe/ Künstler (in der LF seit 2008)>
Um „Normal 0“ zu finden, suchen wir ein mittleres Einkaufszentrum etwas außerhalb der Stadt auf und setzen uns möglichst gelassen in dessen Mitte, z. B. zum Eis-Italiener unter das zentrale Glasdach (fast immer: „SanMarco“). Links müßte jetzt der Kick-Markt sein und rechts die CARE FOR HAIR- Filiale, wo die zeitgemäßen Kopfformen hergestellt werden. Was wir jetzt um uns herum sehen, ist zweifellos der Zustand „Normal 0“: Die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland wühlen müde oder mäßig erregt in verschiedenen Warensortimenten. Von oben wird dazu sanft debile Radiomusik eingespielt. Viele „neue Senioren“ sind unterwegs (Ganzkörper-Jeans, scharlachrote Schirmmützen auf 70jährigen Köpfen), ebenso viele Junioren, standardisiert wie ein SA-Trupp und mindestens beidseitig beschriftet mit den Insignien der Macht: vonDutch, adidas, oder auch nur traurig: McNeal. Es geht hier unter dem Glasdach um das Verschieben kleinerer Geldsummen, um ein preiswertes Saugen am öffentlichen Euter des gemäßigten Wohlstandes, oder wenigstens um einen billigen Etappensieg im verbissenen Krieg gegen die Langeweile. Denn die Langeweile ist der infernalische Hauptfeind, der längst überall ge-endsiegt hat: zahlreich warf er ringsum seine geschlagenen Opfer aufs Plastikgestühl, nicht ohne sie vorher sichtbar mit Korpulenz, Triefäugigkeit und grindiger Gesichtsmaserung zu brandmarken.
Soziologisch betrachtet haben wir hier zweifellos ein gesellschaftliches Endstadium vor Augen, sozusagen eine soziale Nahtod-Erfahrung: einen Klumpen aus vollkommen isolierten Halbmenschen, ein modulares Geflecht, das durch Addition unendlich vieler Nullen eine gigantische, historisch relevante Super-Null inthronisiert. Lobotomie als sozialer Standard. Kurz, wir befinden uns mitten in der „Euro-Zone“, dem zentralen Herrschaftsbereich des besinnungslosen Schwachsinns. Hier wühlt man nur noch in sich selbst herum oder im Low Price-Regal. Und hier zeigt der moderne Kapitalismus, was er verlangen darf: ein amöbenhaftes Pulsieren rund herum um beliebige Warenaufschüttungen. Dabei ist es ganz gleichgültig, in welcher Breite das Geld durch die Gesellschaft strömt: Etwas weiter oben, wo die Regale nicht mehr „Low-Price“ sind, sieht es kaum besser aus. Im Gegenteil, man ist dort manisch mit den monströsen Ritualen der Währung und ihrer wunderbaren Vermehrung befaßt. Man glaubt sich der heiligen Quelle des Wohlstandes ganz nah, wird bösartig, aufsässig und selbstherrlich. Und man fummelt wie weiter unten permanent an irgendwelchen Waren herum. Das etwa wäre „Normal 0", also die Ebene, auf der sich unser Alltag ereignet. Alle guten Geister haben den Bereich verlassen.
Die Frage ist nun: Wie soll man darin leben, wenn einem die Begabung zur Niedertracht fehlt? Soll man sich in irgendeine Ecke kauern? Soll man Amok laufen (nichts wäre übrigens verständlicher!)? Soll man sich in eine Anstalt einweisen lassen? Soll man dankend auf die Fortsetzung seiner Existenz verzichten?
Es gibt zwei historische Rettungswege, die ebenfalls in Betracht kommen: Erstens der Kampf gegen das erniedrigende System. Dieser Weg steht leider nicht mehr zur Verfügung. Denn das System ist von so ungeheurer Korpulenz, daß seine Umrisse, die man doch kennen müßte, um darauf zu schießen, im Halbdunkel verschwimmen. Zugegebenermaßen ist die Luftzusammensetzung in der Umgebung einer brennenden Limousine eine bessere (weit über „Normal 0“). Man kann darin wahrscheinlich endlich durchatmen. Aber spätestens am nächsten Morgen ist alles beiseite geräumt und der Schweinestall tobt wie eh und je über die Brandstelle hinweg.
Ich persönlich kenne kein ideologisches Werkzeug, das gegen das gigantische Geflecht des späten, totalen, in wütende Fäulnis übergehenden Kapitalismus mehr als ein intelligenter, etwas altmodischer Witz wäre. Der politische Kampf ist ein Heimatmuseum, ein Nostalgie-Verein. Nichts an diesem System ist noch irgendwie „politisch“ zu fassen. Politik ist ein fingierter Punching-Ball. Er hängt dort nur, damit wir uns sinnlos schwafelnd darin verbeißen sollen.
Der zweite historisch erprobte Rettungsweg wäre die Kunst. Ihr Versprechen ist Gegenwelt, und der Weg dorthin ist Eskapismus. Die Kunst wäre ein zweifelhafter, in alle Richtungen betrügerischer, instabiler, unseriöser, feiger und anmaßender Notausgang. Aber er müßte funktionieren und hat funktioniert.
Man kann vor eine dieser Vitrinen treten, die Beuys vor 40 Jahren mit irgendeinem Zeug beladen hat- und man blickt unversehens aus der „Normal 0“-Katastrophe hinaus auf wirkliche Dinge. Das ist Theater, aber es funktioniert. Oder Raymond Roussel: ein literarisches Gebäude ganz ohne Berührungspunkte mit der umgebenden Welt, ein freischwebender Kristall, von zahllosen Gängen durchzogen. Sowas ist natürlich Trickbetrug, aber es funktioniert.
Raymond Roussel, Illustration zu LOCUS SOLUS |
Ich habe mich deshalb vor ein paar Jahrzehnten für diese Art von Arbeit entschieden, übrigens erst, nachdem die „politische Option“ sich erledigt hatte. Damit sind wir bei der Gegenwartskunst.
Zuerst das Studium: ein Altersheim für Jugendliche, eine dumpfe Produktoptimierungs-Ausbildung. Gleich nach der Initiationsphase, die nichts anderes als eine rasche und beschämende Kastration ist, machen alle Studenten sich unermüdlich gegenseitig zur Schnecke, um zu vermeiden, daß irgendwer heimlich aus dem Laufstall klettert. Mir sind überhaupt nur drei, vier Kommilitonen begegnet, die nicht kleiner aus dem Studium hervorgegangen sind, als sie hineingekommen waren. Es geht ihnen heute samt und sonders überaus schlecht. Einer (vielleicht der eigensinnigste) hat sich noch nachträglich für die Irrenanstalt entschieden. Kurz, eine ungeheure Pleite.
Dann die Kunstszene: obenauf die Neureichen und ihre willigen Zuträger, ganz abscheuliche Existenzen darunter. Sie sprechen eine Sprache, wie sie niemals vorher innerhalb der Hochkultur gesprochen worden ist: sie sagen „Hironus Busch“, wenn sie Hieronymus Bosch meinen und „Stuff“, wenn sie von Malerei sprechen. Wie satte Flöhe sitzen dazwischen die Kuratoren, die jedes Kunstwerk, das in ihre Nähe gerät, solange mit den banalsten und am meisten unzutreffenden Deutungen besprühen, bis die Bilder mürbe und bedeutungslos von der Wand fallen.
Dann die vermeintlichen Kollegen im Zustand erprobter Reife: Nahezu vollständig gelähmt vom niemals verstummenden Geplapper der Vermittler, willige Gehilfen ihrer eigenen Erniedrigung.
Hinter all dem erhebt sich schließlich der enorme Wall des Kunstmarktes, auf den ich ungläubig ein/zwei weitere Jahrzehnte aus rotgeränderten Augen hinstarre, ohne auch nur die geringste Spur von „Kunst“ darauf entdecken zu können. Statt dessen entdecke ich Charts und Umsatztabellen und strotzende Anmaßungen. Der ganze festlich illuminierte Wall wimmelt von Kaufleuten und noch niedrigeren Kreaturen, die dort irgendwelche Geschäfte abwickeln oder sich bemühen, bepackt mit Surrogaten und deprimierenden Modeartikeln, den schwammig umkämpften Gipfel zu erstürmen, auf dem offiziell immer großer Zahltag ist. Diese Schweine! So sieht sie leider aus, die Gegenwartskunst. Nichts davon ragt nennenswert über „Normal 0“ hinaus. Alles könnte auch gleich neben der CARE FOR HAIR-Filiale stattfinden.
Die Schwäche der Gegenwartskunst besteht darin, daß sie nicht die Kraft und Souveränität aufbringt, der kapitalistischen Jauchegrube zu entkommen. Sie erfindet keine neuen Begriffe, sie findet keine Notausgänge, keine Waffen oder Drogen, mit deren Hilfe wir unter den Bedingungen von „Normal 0“ besser über die Runden kommen könnten. Sie versucht gar nicht erst, den Kopf über den Rand der Grube zu bekommen. Sie bleibt drin liegen, vielleicht berauscht von soviel ungewohnter, geldwerter Aufmerksamkeit. Sie bezahlt die bequeme Lage lieber mit Siechtum und Verblödung.
Es verhält sich mit der Gegenwartskunst so, wie es sich damit unter sozialistischer Diktatur verhalten hat: Sie dekoriert ein System. Und alle, die drinsitzen, ignorieren die Tatsache, daß sie nicht in Freiheit arbeiten, sondern unter der Diktatur des totalen Marktes, unter der es nichts anderes mehr geben darf als „Markt“. Und wo man nichts anderes darf, als flehentlich darum zu betteln, möglichst schnell und gründlich zu Geld verbrannt zu werden.
Für viele, die sich mit einer Einäscherung zu Lebzeiten nicht abfinden möchten, wird die Kunst nicht nur kein Zufluchtsort mehr sein. Sie werden die Kunst mit Recht als ein weiteres strotzendes Symptom der Diktatur des Geldes identifizieren, als einen schändlichen Verrat, der uns den letzten Fluchtweg verschüttet hat. Jeder Künstler, der die Gegenwartskunst dafür nicht haßt, ist in Wirklichkeit keiner.
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20. Okt./ Esch
ESCH |
Naja, hier zum Beispiel: X (Link unten. LW.)
Hier hat man die Schwäche in voller Stärke. Spätestens, wenn man den Satz hört "Ich liieppe es!" (da, wo der halbfertige Geißbock verwackelt ins Bild kommt), weiß man Bescheid: es ist nur ein wenig Einzelhandel. Wahnsinnig beschämend! < Link >
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22. Okt./ Claus Bulcke / LF-Z Berlin
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22. Dez./ (Nachtrag)/ anonymer Kommentar Okt. 12
Ok, alles was hier steht stimmt vollkommen. Auch was sonst bei local fist steht. Jedenfalls schön, dass jemand mal die Wahrheit sagt. Aber die Frage ist doch, wie es dann weitergehen soll. Welche Zukunftsperspektive ergibt sich dadurch? Einfach hinschmeissen und die Kunst vergessen? Vielleicht klärt ihr das ja in der nächsten Umfrage. Ich kann es bis jetzt nicht beantworten.
P.M. Künstlerin, Berlin
Lieber Louis, bitte den Text nochmal rausnehmen. Er muß überarbeitet werden. Gruß (C)
AntwortenLöschenOk, alles was hier steht stimmt vollkommen. Auch was sonst bei local fist steht. Jedenfalls schön, dass jemand endlich die Wahrheit sagt. Aber die Frage ist nur, wie es dann weitergehen soll. Welche Zukunftsperspektive ergibt sich dadurch? Einfach hinschmeissen und die Kunst vergessen? Vielleicht klärt ihr das ja in der nächsten Umfrage. Ich kann es bis jetzt nicht beantworten.
AntwortenLöschenP.M. Künstlerin, Berlin